Gastkommentar von Michael Schratz in der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ vom 10. August 2023: Angesichts drohenden Lehrer(innen)mangels sucht das Bildungsministerium in der Werbekampagne „Klasse Job“ nach Quereinsteigern. Dabei wurden selbst Kardinalfehler gemacht.
Wenn es Sie reizt, junge Menschen zur kritischen, kommunikativen, kreativen und teamfähigen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu befähigen und ihrem Verlangen nach einem sinnerfüllten Leben in einer menschenwürdigen Zukunft in Auseinandersetzung mit ethischen und moralischen Werten und der religiösen Dimension des Lebens zu begegnen – dann sind Sie die richtige Person, die wir für diesen Traumjob suchen.
In Ihrer Arbeit können Sie dazu beitragen, dass junge Menschen bei der Bewältigung von gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen eine aktive Rolle einnehmen. Dazu gehört, dass Kompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung angebahnt sowie Politische Bildung mit Global Citizenship Education, Friedenserziehung und Menschenrechtsbildung vermittelt werden. Ihr Arbeitsplatz ist damit nicht nur ein Ort der Bildung und Erziehung, sondern auch ein sozialer Raum, der es ermöglicht, sich zu erproben, die Wirkungen des eigenen Handelns zu erleben und dieses kritisch zu reflektieren.
Diese Stellenanzeige ist zwar fiktiv, zitiert aber wortwörtlich auszugsweise Bildungsziele des neuen Lehrplans für Volksschulen, der ab dem Schuljahr 2023/24 in Kraft treten soll. Hand aufs Herz: Würden Sie sich zutrauen, diese Aufgabe zu übernehmen? Diese Lehrplanvorgaben verweisen auf die verantwortungsvolle Aufgabe, die Lehrerinnen und Lehrer als die „Architekt:innen der Zukunft“ sieht, wie die Industriellenvereinigung zurecht fordert.
Artwork von Piyapong Saydaung auf Pixabay
Teilzeitjob als Lückenfüller?
Ob Slogans wie „Beruf + Berufung = Architekt + Bautechniker: Meine Erfahrung bringe ich in die Schule ein: Als Lehrer/in in meinem Zweitjob!“ im Rahmen der aktuellen ministeriellen Werbekampagne „Klasse Job“ diesen Ansprüchen gerecht werden kann, ist aber zweifelhaft. Die Kampagne täuscht eine Schulwelt vor, die bei aktiven Lehrpersonen eher Kopfschütteln erzeugt. Unter immer schwierigeren Bedingungen widmen sie ihr Berufsleben unserer zukünftigen Gesellschaft – erhalten aber selten jene Anerkennung, die sie verdienen.
Wie kommt es dazu, dass die Schulbehörde, die einst eine Aufnahme von Lehrpersonen aus anderen Bundesländern verweigerte, jetzt offensiv dort Werbeplakate anbringt? Vor nicht allzu langer Zeit wurden alle Maturant(inn)en in persönlichen Schreiben gewarnt, den Lehrberuf zu ergreifen. Sollte es nicht unser aller Ziel sein, die besten Bewerber für das Lehramtsstudium zu gewinnen – wie dies Finnland, Singapur und andere Länder längst praktizieren und damit in weltweiten Vergleichsstudien Spitzenleistungen erzielen? Dabei liegen dem Bildungsministerium seit Jahren Szenarien über den Einstellungsbedarf von den Schuljahren 2014/15 bis 2025/26 vor. Wie glaubwürdig ist das Ministerium, wenn von den an den Schulen Tätigen ständig Daten eingefordert werden, die eigenen aber nicht ernst genommen werden? Geht es den Verantwortlichen eher um Dienst nach Vorschrift als um das Interesse, den Lehrerberuf so attraktiv wie möglich zu machen?
Während in der gegenwärtigen Rekrutierungskampagne mit dem Slogan „Ich werde Junglehrer/in und gestalte die Zukunft!“ für einen Beruf geworben wird, „der gefragt und sinnstiftend ist!“, erleben viele Studierende ihren ersten Realitätsschock, wenn sie zur Abdeckung des Unterrichtsbedarfs bereits im Bachelor-Studium mit hohen Stundenkontingenten in Schulen eingesetzt werden. Ihr Studium leidet aufgrund der vielfachen Abwesenheit – und die Schulen klagen, weil sie oft nicht vor Ort sind. Wenn ich bereits bei Lehramtsstudierenden von Burnout-Symptomen erfahre, ist das ein denkbar ungünstiger Start ins spätere Berufsleben.
Zukunft neu denken
Für Andreas Schleicher, der die weltweiten PISA-Tests bei der OECD verantwortet, heißt Erfolg in der Bildung heute nicht nur die Beherrschung von Sprache, Mathematik oder Geschichte – sondern es geht ihm darum: „Neugier und Wissensdurst zu wecken – den Intellekt für Neues zu öffnen, es geht um Mitgefühl – die Herzen zu öffnen, und es geht um Mut […]. Das werden auch unsere besten Waffen gegen die größten Bedrohungen unserer Zeit sein – Ignoranz – der verschlossene Verstand, Hass – das verschlossene Herz, und Angst – der Feind von Handlungsfähigkeit.“ Dies entspricht in noch eindringlicherer Formulierung dem, was die eingangs formulierte Stellenanzeige fordert.
Zur Abdeckung des Lehrerbedarfs könnten die Profis aus dem Ministerium ein Jahr lang unterrichten.
Mit Blick auf die aktuelle fragwürdige Imagekampagne wünsche ich den für das Bildungssystem Verantwortlichen und den in ihm Tätigen, dass sie den Mut haben, in einer Kultur der gegenseitigen Akzeptanz offen über eine zentrale Frage zu diskutieren und sie mit Engagement gemeinsam zu überlegen: Welche neuen Strukturen und Haltungen brauchen wir in Zukunft, um den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden? Zur unmittelbaren Abdeckung des Lehrerbedarfs könnten vorerst die Profis aus dem Ministerium ein Jahr lang an Schulen unterrichten. Dies wäre nicht nur eine Win-win-Situation (weniger ministerielle Vorgaben, mehr Autonomie an Schulen), sondern sicher auch ein Booster für die Zukunft des österreichischen Schulsystems.
Der Autor ist Gründungsdekan der „School of Education“ an der Universität Innsbruck und engagiert sich in der Reform der Lehrer(innen)bildung.