Achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch (Teil 2)

Von Mike Sandbothe.

Bildungspolitik in den Wahlprogrammen der Thüringer Parteien. Eine Fahrrad-Tour durch Erfurt

Welche Rolle spielen achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch in den Wahlprogrammen der Thüringer Parteien? Das ist eine hochaktuelle Frage für mich. Ich wohne in Erfurt, arbeite in Jena und am 1. September 2024 finden in Thüringen Landtagswahlen statt.

Prognosen zufolge liegt die AfD vorn, gefolgt von der CDU und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die seit 2014 regierende rot-rot-grüne Koalition von Ministerpräsident Ramelow kommt in den Umfragen nicht gut weg. Die Menschen in Thüringen sind aufgebracht und neugierig. Es wird viel über Politik geredet. Die Frage nach der Gestaltung des Bildungssystems spielt dabei eine wichtige Rolle.

Bildung hat in Thüringen nicht nur Tradition, sondern auch Zukunft. Das legt jedenfalls eine Lektüre der Wahlprogramme nahe, die von der AfD, dem Bündnis 90/Die Grünen, dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), der CDU, der Partei Die Linke, der FDP und der SPD (alphabetische Reihenfolge!) vorgelegt wurden. Anfang August habe ich damit begonnen, mich über die Wahlprogramme der Parteien zu informieren.

Mit dem Fahrrad durch die Gutenberg Galaxis

Der MDR hat auf seiner Homepage die digitalen Programme zugänglich gemacht. Beim Durchscrollen wurde mir klar, dass ich die Texte gern analog als gebundene Druckwerke auf meinem Schreibtisch hätte, um sie mit Textmarkern durchzuarbeiten und in Sachen Bildungspolitik zu vergleichen. Und schon saß ich auf dem Fahrrad.


Es gibt Indizien dafür, dass Johannes Gutenberg im 15. Jh. an der Universität Erfurt (die zu den ältesten Universitäten Europas gehört) studiert hat.

Meine erste radelnde Parteien-Runde durch die Landeshauptstadt Erfurt habe ich am 7. August gemacht. Ich war gut zwei Stunden unterwegs. Dabei ließ ich mich davon leiten, welche Kontaktadressen die Parteien im Internet angeben. Den 83 Seiten umfassenden „Thüringen Plan“ der CDU hielt ich nach 5 Minuten als gebundenes Exemplar in der Hand („#FreudeAmMachen“). Der junge Mann beim Kreisverband am Wenigemarkt ließ mich wissen, dass er froh sei, der Landesgeschäftsstelle ein paar Exemplare abgerungen zu haben.

Anders bei der SPD. Das große Ladenlokal der Landesgeschäftsstelle im Juri-Gagarin-Ring mit rotem Banner und viel Drumherum war leergeräumt, eine neue Adresse nicht angegeben. Am Telefon wurde ich um meine Anschrift gebeten, und es wurde mir zugesichert, dass ich das Regierungsprogramm „SPD Klar und deutlich: Für Thüringen“ zeitnah auf dem Postweg erhalte. Eine Woche später lag es noch nicht in meinem Briefkasten. Ein weiterer Anruf führte mich zum neuen Büro der SPD-Landesgeschäftsstelle. Gleich an der Tür wurde ich gefragt, was ich denn hier suche und darum gebeten, den Namen der Person zu nennen, die mir die Aussicht auf ein Wahlprogramm eröffnet hat. Obwohl ich den Namen nicht mehr wusste, erhielt ich zu guter Letzt doch noch ein Exemplar des 42 Seiten umfassenden, (sehr) eng geschriebenen „Regierungsprogramms 2024-2029“.

Aber zurück zu meiner Fahrradtour am 7. August. Nach dem leeren Ladenlokal der SPD habe ich mich auf die Suche nach der Landesgeschäftsstelle des BSW gemacht. Die im Internet angegebene Adresse in der Magdeburger Allee gab es gleich zweimal. Durch Hinweise der Hausbewohner habe ich nach einigem Suchen die offensichtlich erst vor kurzem bezogenen Büroräume der Partei gefunden. Die Türen waren nicht abgeschlossen, aber in den Räumen war niemand zu finden. Zum Glück war ich am Abend des gleichen Tages mit dem Pressesprecher des BSW verabredet, der mir einen Ausdruck der im Internet zugänglichen PDF-Datei „Neustart für Thüringen. Damit sich was ändert“ (58 Seiten, Stand: 01.06.2024) mitbrachte.


Erfurt, Foto: Maryna Nikolaieva, unsplash

Telefonate, digitale Medien und konspirative Treffen

Nach den Erfahrungen mit SPD und BSW habe ich von Spontanbesuchen mit dem Fahrrad Abstand genommen und mich stärker aufs Telefonieren verlegt. Zum Glück! Denn die Landesgeschäftsstelle von Die Linke teilte mir gleich am Telefon mit, dass ihr 77 Seiten umfassendes „Regierungsprogramm für 2024 bis 2029“ mit dem Titel „Unser Thüringen: Menschlich, Stark, Gerecht“ ausschließlich digital zur Verfügung steht. Auch das BSW schont die Bäume und lässt nicht drucken. Alte Boomer-Herren wie ich (Jahrgang 1961), die noch auf Gutenberg stehen, kommen damit auch zurecht.

Anders bei Bündnis 90/Die Grünen. Die 202 Seiten von „Thüringen im Herzen. Zukunft im Blick“ habe ich erst ganz am Ende meiner 12-Tage-Tour ergattern können. Aber dafür ist es auch das umfangreichste „Landtagswahlprogramm 2024“. Gleich gefolgt von der AfD mit 144 Seiten „Alles für Thüringen!“ Das im handlichen DIN A5-Format gebundene AfD-Büchlein wurde mir auf dem Willy Brandt Platz vor dem Erfurter Hauptbahnhof von einer Mitarbeiterin der Landesgeschäftsstelle übergeben, da diese mit dem Rad nur schlecht zu erreichen ist.

Das AfD Wahlprogramm war deutlich leichter und schneller zu bekommen als das von Bündnis 90/Die Grünen. Nach meinem Telefonat mit der Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am 7. August wurde ich zunächst für einen der kommenden Tage auf einen Wahlstand auf der Schlösserbrücke verwiesen. Der aber war dort zum angegebenen Termin nicht zu finden. Bei einem erneuten Anruf wurde mir das Büro des Kreisverbands in der Michaelisstraße empfohlen. Es ist während des Wahlkampfs immer dienstags von 10-12 Uhr für Bürgerinnen und Bürger geöffnet. Aber auch dort gab es kein Wahlprogramm. Mein dritter Anruf und der daran anschließende Besuch bei der Landesgeschäftsstelle in der Lutherstraße – sie war im Internet als „vorübergehend geschlossen“ ausgewiesen – führte am 19. August zum Erfolg.

Und das Wahlprogramm der FDP? Das hatte ich ganz vergessen. Es war aber leicht zu bekommen. Ein kurzer Vormittagsanruf bei der Landesgeschäftsstelle am 21. August, 20 Minuten mit dem Fahrrad zur Liebknechtstraße, dann wieder zurück, und schon lagen die 84 Seiten „Unser Wahlprogramm #Für Thüringen“ mit dem Cover-Vermerk „Zweitstimme Kemmerich“ auf meinem Schreibtisch.

Hohe Priorität

Das viele Radeln hat sich gelohnt. Nicht nur für die persönliche Gesundheit. Der Bildungsinhalt der Programme, die mir heute in professionell gebundener Form (AfD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU, FDP SPD), als ausgedruckte PDF-Datei (BSW) und in digitaler Gestalt (Die Linke) vorliegen, ist durchaus eine bewegungsfreundliche Lernreise wert. Denn für alle sieben Parteien gilt: Bildung hat eine hohe Priorität! 

Die AfD kämpft für den „Schulfrieden“ und setzt sich für eine „Rückbesinnung auf erfolgreiche Konzepte der Wissensvermittlung in der DDR“ ein.

 

Bündnis 90/Die Grünen plant, die „Durchlässigkeit des Bildungssystems weiter zu erhöhen“ und die „Umsetzung der UNESCO-Roadmap für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE 2030)“ durch eine „Landesstrategie“ voranzubringen.

 

Das BSW will das institutionalisierte Silo-Denken auflösen und die von der rot-rot-grünen Landesregierung getrennten Ministerien für Bildung und Wissenschaft wieder zusammenführen.

 

Die CDU verfolgt ebenfalls „einen integrierten Bildungsansatz“, der „innerhalb eines Hauses“ koordiniert werden soll. Darüber hinaus sieht ihr „Thüringen-Plan“ vor, für alle Schülerinnen und Schüler einen „Tag in der Praxis“ umzusetzen und so den Wirklichkeitsbezug von Bildung zu stärken.

 

Das Bildungsprogramm von Die Linke integriert Sozialarbeit vom Kindergarten bis zur Hochschule ins Bildungssystem, macht den „kritischen Umgang mit Social Media ab der Schuleingangsphase zum Teil des Unterrichts“ und etabliert an den Hochschulen „Forschung und Lehre zur gesellschaftlichen Transformation“. 

 

Beim FDP-Vorhaben „Weltbeste Bildung für jeden“ wird spürbar, dass derzeit eine FDP-Politikerin Bildungsministerin ist. Die Liberalen wollen sich „aus Thüringen heraus für eine Reform der Bildungslandschaft im ganzen Bund einsetzen.“

 

Der SPD geht es darum, die Gemeinschaftsschule thüringenweit zu realisieren. Das soll in Schulen geschehen, die dem „Biorhythmus junger Menschen“ entsprechend erst um 9.00 Uhr starten, mit Lerneinheiten von „45 bis maximal 60 Minuten“ arbeiten und über den ganzen Tag verteilt „zeitliche Regenerationsräume“ anbieten.

Ein zweiter Blick

Das sind nur Spotlights, subjektive Lese-Eindrücke und bunte Textmarkierungen oder Ausrufezeichen am Rande; keine vollständigen Listen von Alleinstellungsmerkmalen, sondern eine ganz persönliche Auswahl von hervorstechenden Einzelheiten: bei der AfD „Schulfrieden“ und „DDR“, bei Bündnis90/Die Grünen „BNE 2030“, bei BSW und CDU „Bildung und Wissenschaft in einem Ministerium“ und bei der CDU dazu noch „Tag in der Praxis“, bei Die Linke  „Forschung und Lehre zur gesellschaftlichen Transformation“, bei der FDP eine Initiative zur„Reform der Bildungslandschaft im ganzen Bund“ und bei der SPD „Biorhythmus“. 

Warum diese Auswahl? Nun ja: Mich interessieren achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch. Wo gibt es Bezugspunkte zwischen den sieben Thüringer Bildungsprogrammen und der achtsamkeitsbasierten Bewusstseinsbildung? Dazu schaue ich erneut in die fünf gebundenen Druckwerke (AfD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU, FDP, SPD), die ausgedruckte PDF-Datei (BSW) und das Internetprogramm (Die Linke).

Schulfrieden und Bildungsexperimente

Im AfD-Wahlprogramm wird „Schulfrieden“ als Befreiung von „Bildungsexperimenten“ definiert. Lehrer sollen nicht „zu ‚Lernbegleitern‘ degradiert“ werden, sondern „eine natürliche, ordnende Autorität“ ausbilden. Im Zentrum stehen das „Leistungsprinzip“ und „Schulnoten (…) ab der zweiten Klasse“. Achtsamkeit und „Frei-Days“, an denen die Schüler selbst über das Tagesprogramm bestimmen und die Lehrer als Lernbegleiter tätig werden, wären aus AfD-Sicht vermutlich Bildungsexperimente, die den Schulfrieden stören.

Wie ist das bei Bündnis 90/Die Grünen? Individuelle Förderung geht hier „vor Noten und Leistungsdruck“. „Besondere Leistungsfeststellung (BLF) nach der 10. Klasse abschaffen“, „Alternativen zu Hausaufgaben entwickeln“, „Aufgabenfülle reduzieren“, „Abschaffen des `Sitzenbleibens`“, mehr „Selbstorganisation“, „weg vom starren Fächerdenken“, „hin zu fächerübergreifender Orientierung auf Lebenswelt und Alltagskompetenz, beispielsweise mentale Gesundheit, gesunde Ernährung und kritisches Denken.“ Und an den Hochschulen unter anderem: „Besondere Förderung der Erforschung zentraler Zukunftsfragen der Menschheit, zum Beispiel Klimaschutz, Biodiversität oder Postwachstumsgesellschaft“.

Für die meisten Freunde von achtsamen Schulen und Hochschulen im Aufbruch klingt das vielversprechend. Aber zugleich ist es auch etwas überfordernd und wirklichkeitsfremd. Warum? Weil Bewusstseinsbildung als praktische Grundlage für die von Bündnis 90/Die Grünen skizzierte Bildungstransformation nicht in den Blick genommen wird. Was sind die Tools, die dazu beitragen, dass die gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure das nachhaltige Bildungskonzept (BNE 2030) auch umsetzen können und wollen?

Im Mai 2024 war Mike Sandbothe Case-giver für ein 4D-Mapping, das Arawana Hayashi geleitet hat. Dabei wurde sichtbar, dass die Bildungsministerien sich bewegen möchten, aber nicht wissen wie.

Schwächen und Stärken

Den insgesamt 16 Seiten „Wir machen Bildung gerecht“ und „Wir stärken Hochschulen und Wissenschaft“ von Bündnis 90/Die Grünen stehen im BSW-Programm nur vier Seiten „Grundlegend bessere Bildung“ gegenüber. Während die Schwäche des Grünen-Programms in seiner einseitig konzeptuellen Überforderung liegt, ist es beim BSW genau andersherum. Dessen Stärke liegt in seiner inhaltlichen Schwäche. 

Das sichtlich schnell und ohne die Hilfe einschlägiger Expertinnen und Experten gestrickte Programm konzentriert sich auf die Grundschule: „Rechnen statt Gendern“, keine „Smartphones oder iPads“, „nicht pauken, sondern Denken lernen“, „verpflichtende Sprachtests für Kinder ab 3 Jahren“. Und darüber hinaus: „die Regelschule stärken“, „kreatives Lernen sowie die Ausprägung haptischer, künstlerischer und musischer Fähigkeiten fördern“. Mit der Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger meint es das BSW (derzeit noch?) ernst. Auch und gerade das Bildungsprogramm ist ein work in progress. Es wurde von einer Kindergärtnerin, einer Sozialarbeiterin und einem Grundschulrektor unter Zeitdruck verfasst und ist offen für ein baldiges Upgrade.

Ob sich Perspektiven für achtsame Schulen und Hochschulen beim BSW ergeben, wird die Zukunft zeigen. Ein gutes Zeichen: Einer der drei Spitzenkandidaten ist seit vielen Jahren im Nebenberuf Trainer für Gewaltfreie Kommunikation (GfK). Er arbeitet als Pressesprecher für die Partei. Dass er mehr als 30 Jahre lang beim MDR das „Thüringen Journal“ moderierte, qualifiziert ihn für den Job. Als GfK-Trainer könnte er darüber hinaus den bisher 45 BSW-Parteimitgliedern dabei helfen, nicht nur über Frieden zu reden, sondern ihn auch in der Kommunikation nach innen und außen zu praktizieren. Für ein achtsames Bildungssystem wäre GfK ebenfalls hilfreich – und für eine gewaltfreiere Gesprächskultur der Spitzenkandidaten bei der öffentlichen Debatte im MDR. 

 „Wenn ich Sie schon unterbreche, dann lassen Sie mich bitte auch ausreden!“ Die Thüringer Spitzenkandidaten der anstehenden Landtagswahl im Streitgespräch im MDR (v.l.n.r.): Mario Voigt (CDU), Björn Höcke (AfD), Bernhard Stengele (Bündnis 90/Die Grünen), Georg Maier (SPD), Thomas Kemmerich (FDP), Katja Wolf (BSW), Bodo Ramelow (Die Linke). Foto: dpa, Jacob Schröter

Mind Shift und blinder Fleck

Mit 9 Seiten liegt der Bildungsplan der CDU von der Extension her zwischen BSW (4 Seiten) und Bündnis 9/Die Grünen (16 Seiten). Er will „Kopfnoten für Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung“ wieder einführen und Noten ab Klasse 2 sicherstellen. Zugleich sollen „selbstorganisiertes Lernen und Projektarbeit“ sowie eine „landesweite Einführung des ‚Tags in der Praxis‘ (TiP)“ gefördert werden. In Nordthüringen gibt es den TiP bereits. Für einen Tag pro Woche werden über den Zeitraum eines Jahres Praktika für Schülerinnen und Schüler bei umliegenden Betrieben organisiert. Das ist zwar noch kein Frei-Day, aber ein konkreter Schritt in Richtung „Praxisorientierung“. Darüber hinaus will die CDU das Konkurrenz- und Silo-Denken der Thüringer Hochschulen durch einen „Campus Thüringen“ in ein kooperatives Miteinander transformieren. Auch hier stellt sich die Frage nach den Sozialtechnologien, die den in Aussicht gestellten mind shift zur pädagogischen und akademischen Neuorientierung ermöglichen.

Was die CDU für Hochschulen plant, hat Die Linke für Schulen im Programm: das Silo-Denken überwinden und Schulen kooperieren lassen. Außerdem soll „jede Schule in Thüringen über ein individuelles Schulkonzept“ verfügen. Dabei können Schülerinnen, Schüler und Eltern mitreden. Ebenfalls ähnlich wie bei der CDU wird „das praxisorientierte Lernen“ durch „lernortbezogene Kooperation mit Betrieben der Region“ vorangebracht und in diesem Fall sogar „im Schulgesetz“ verankert. Hinzu kommen eine „Kultur der Digitalität“ sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Die Hochschulen sollen sich „für eine sozial-ökologische Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft“ stark machen und „global nachhaltige Antworten auf neue Herausforderungen“ geben. Konkretisiert wird das mit dem Vorhaben der Einrichtung eines „Lehrstuhls, der sich mit Kolonialismus, Migration, Flucht, Rassismus und Antisemitismus befasst“ und einer „Professur für Plurale Wirtschaftswissenschaft“. Der Ansatz ist theoretisch ausgerichtet und bleibt kognitiv geprägt. Transformative Grundhaltungen aber lassen sich nicht allein durch konzeptuell definierte Lehrstühle und Professuren bei den Schul- und Hochschulakteuren oder gar in der Bevölkerung verankern. 

Dafür braucht es die flächendeckende Skalierung von evidenzbasierten Trainingsprogrammen. Die entsprechenden Standards wurden in den letzten Dekaden vom University Hospital of Massachusetts, der Max-Planck-Gesellschaft und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt und weltweit erfolgreich erprobt (vgl. hierzu Teil 1 dieses Blogbeitrags). Dies nicht zu sehen, markiert einen blinden Fleck der Thüringer Bildungsprogramme.

Das gilt auch für FDP und SPD. Die „weltbeste Bildung“ der FDP könnte sich an den internationalen Standards der achtsamkeitsbasierten Geistesschulung ausrichten und durch deren landes- und/oder bundesweite Skalierung den Boden für eine innovative Bewusstseinskultur legen. Und die Orientierung der SPD am “Biorhythmus” der Lehrenden und Lernenden wäre eine gute Grundlage für achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch. Auch Potentialorientierung und „Selbstwirksamkeit“ sind achtsamkeitskompatible Konzepte. Aber eben nur Konzepte. Das gleiche gilt für „Hochschulen als ‚Problemlöser‘“, die „Impulse für globalen gesellschaftlichen Fortschritt“ geben und „die Studierenden für Zukunftsaufgaben qualifizieren“ sollen.

Arbeit am Fundament

Der Aufbruch in eine Bildungswelt, in der die Probleme der Welt in die Schule gebracht und die Städte und Dörfer selbst zu Schulen werden, ist in den Bildungsprogrammen von Parteien wie Bündnis 90/Die Grünen, CDU, Die Linke, FDP und SPD angedacht. Auch die Bedeutung von gesundheitsförderlichen und resilienten Formen des Lehrens und Lernens kommt in den Blick. 

Angesichts neuer Kriege, neuer Krankheiten und neuer Klimakatastrophen reicht es jedoch nicht aus, die Themen der aktuellen Bildungsdebatte einfach nur neu zu sortieren. Es fehlt die Einsicht, dass es einer grundlegenden Arbeit am mentalen Fundament für die Bildung des 21. Jahrhunderts bedarf. Die zentrale Frage lautet: Wie kann es gelingen, die input-, autoritäts-, leistungs- und effizienzzentrierte Bildungskultur des 20. Jahrhunderts zu einem anwender-und ökosystemzentrierten Betriebsmodus weiterzuentwickeln?

Zwar wird in den Bildungsprogrammen der Thüringer Parteien viel von Praxisorientierung und einer Renaissance des Handwerks gesprochen. Aber die bewusstseinskulturelle Grundsteinlegung für achtsamkeitsbasierte Bildungsinstitutionen, die es in Zeiten der Polykrise braucht, wird noch nicht in Angriff genommen.

De-learning und Re-learning

Das liegt wohl auch daran, dass die Parteiprogramme von Menschen geschrieben wurden, die ihr Handwerk in Institutionen erlernt haben, die vom Rationalismus des 20. Jahrhunderts geprägt sind. Es verwundert nicht, dass die so entstandenen Texte durch einen Theorie- und Konzept-Bias beziehungsweise die daraus resultierende Kluft zwischen Wissen und Handeln geprägt sind. Beides bestimmt unsere Bildungsanstalten bis heute.

Die Arbeit am Fundament für die Bildungskultur des 21. Jahrhunderts beginnt mit Prozessen des De-learning und des Re-learning. Losgelassen werden darf das seitenweise Auftürmen von Gedankengebäuden und wiedererlernt werden kann die innere Wechselbeziehung von Gedanken, Gefühlen und Embodiment oder wie es bei Otto Scharmer heißt, die vertikale Verbindung von Open Mind, Open Heart und Open Will. 

Genau dabei unterstützen uns die evidenzbasierten Methoden der individuellen, sozialen und systemischen Achtsamkeitpraktiken, mit denen sich Teil 1 dieses Blogbeitrags befasst. Diese Praktiken gehören nicht nur mittel- und langfristig in die öffentlichen Bildungsinstitutionen, sondern so schnell wie möglich auch in die Weiterbildung für diejenigen, die die Wahl- und Regierungsprogramme der Parteien schreiben.

Dieser Text ist ein Follow-Up-Beitrag von Mike Sandbothe zu seinem LEA-Blogbeitrag „Achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch (Teil 1).

Informationen zum Autor:
Prof. Dr. Mike Sandbothe ist Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Zusammen mit seinem Kollegen Reyk Albrecht hat er das Thüringer Modellprojekt Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft (2015-2019) geleitet und die überregionale Kooperationsplattform Achtsame Hochschulen sowie das Bildungsunternehmen Achtsam.Digital gegründet.

www.achtsamehochschulen.de
www.achtsam.digital
www.achtsamkeiten.com
www.sandbothe.com
www.lea.education/socialpresencingtheater