Achtsame Schulen und Hochschulen im Aufbruch (Teil 1)

Von Mike Sandbothe.

In seinem Beitrag, zu dem von Reyk Albrecht und mir herausgegebenen Buch Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft, schreibt Otto Scharmer mit Blick auf den Lehrplan von Schulen und Hochschulen im Aufbruch: „die Herausforderungen der Welt und der sozialen Transformationen sind das Curriculum.

Der weltweit wirksame Transformationsforscher ist bekannt dafür, dass er sich dafür einsetzt, das sogenannte Silo-Denken zu überwinden. Damit ist ein Denken gemeint, das weniger auf das Ganze schaut als vielmehr in Blasen und vermeintlich geschlossenen Welten operiert. Dazu neigen auch Schulen und Hochschulen im Aufbruch. Ich plädiere dafür, dass wir die Transformationsbewegungen in den Schulen und Hochschulen noch besser miteinander vernetzen.

Das Silo-Denken überwinden

Dabei kann das obige Zitat uns helfen. Was Schulen und Hochschulen im Aufbruch verbindet, ist die gemeinsame Intention, die Probleme der Welt in die (Hoch-)Schule zu bringen und die Welt selbst zum Klassenraum werden zu lassen. In Zeiten multipler Krisen ist das der beste Weg, um Menschen auszubilden, welche mit den Herausforderungen der Zukunft nachhaltig umgehen können.

Der Flaschenhals, durch den jede Schultransformation hindurch muss, ist die auf die Hochschulreife ausgerichtete Gestaltung der Lehrpläne. Wie soll die Transformation der schulischen Curricula gelingen, wenn zusammen mit den Grundlagen der Schulbildung nicht auch die Grundlagen der Hochschulbildung in Bewegung kommen?

Dazu braucht es einen Wechsel der Betriebssysteme in unseren Bildungsinstitutionen. Wie können wir die input-, autoritäts-, leistungs- und effizienzzentrierte Bildungskultur des 20. Jahrhunderts zu einem anwender- und ökosystemzentrierten Betriebsmodus weiterentwickeln? An praktischen Antworten auf diese Frage arbeiten Schulen und Hochschulen im Aufbruch.

Eco statt Ego

Eine von vielen Antworten, die derzeit an den Hochschulen entwickelt werden, richtet den Blick auf die Grundverfassung des menschlichen Bewusstseins. Welche Praktiken gibt es bereits in der Welt der Wissenschaft, die Lehrende und Lernende dabei unterstützen, den Übergang von einem egozentrierten zu einem ökozentrierten Bewusstsein zu vollziehen?

Die überregionale Kooperationsplattform Achtsame Hochschulen verbindet mehr als 800 Hochschulangehörige aus über 130 Hochschulen in der DACH-Region. Dabei sind alle Fachbereiche und Fakultäten vertreten. Die Kolleg:innen arbeiten kooperativ an der Entwicklung von achtsamkeitsbasierten Formen der (Aus-)Bildung von Ärzt:innen, Betriebswirt:innen, Biotechnolog:innen, Ethiker:innen, Informatiker:innen, Journalist:innen, Lehrer:innen, Naturwissenschaftler:innen, Pfleger:innen, Politiker:innen, Polizist:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Wirtschaftsingenieur:innen und anderen tragenden Säulen unserer Gesellschaft.

Individuell, sozial und ökosystemisch

Achtsamkeit an Hochschulen orientiert sich an drei international wegweisenden Trainingsprogrammen, die von Wissenschaftler:innen am University Hospital of Massachusetts, der Max-Planck-Gesellschaft und dem Massachusetts Institute of Technology entwickelt worden sind. Diese Programme schulen drei unterschiedliche Sorten von Achtsamkeit: individuelle, soziale und ökosystemische.

Das weltbekannte 8-Wochen-Training Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) stammt von dem Molekularbiologen und Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn. Im Zentrum stehen individuelle Achtsamkeitsübungen wie der Body Scan sowie Sitz-, Geh- und Bewegungsmeditationen. Mit „individuell“ ist dabei gemeint, dass sich diese Übungen auch allein für sich zuhause durchführen lassen.

Das ist bei dem von der Neurowissenschaftlerin Tania Singer konzipierten 10-wöchigen Dyadentraining anders. Hier handelt es sich um Achtsamkeitsübungen zu zweit. Dabei lässt eine Person die andere Person an ihrer Kontemplation über vorgegebene Fragen teilhaben, die Empathie und Mitgefühl schulen.

Noch einen Schritt weiter geht das ökosystemische Achtsamkeitsprogramm, das Otto Scharmer zusammen mit der Choreografin Arawana Hayashi u.a. für UN-Organisationen, NGOs, Unternehmen, Regierungen und Bildungsinstitutionen entwickelt hat. Im Zentrum des zweitägigen Basiskurses Social Presencing Theater (SPT) stehen social-arts-basierte Achtsamkeitsübungen in Klein- und Großgruppen. Dabei geht es um das methodisch geleitete Sichtbarmachen und Erspüren von Beziehungen zwischen dem biologischen, dem sozialen und dem planetaren Körper.

Social Presencing Theater-Workshop mit Arawana Hayashi „Achtsamkeitsbasierte Transformation in der Bildung“ im Mai 2024 © Achtsam.digital

Damit achtsame Schulen und Hochschulen nicht nur mit einer, sondern mit drei Achtsamkeiten arbeiten können, wurde 2021 das Bildungsunternehmen Achtsam.Digital gegründet. Es hat mehr als 90 Achtsamkeitstrainer:innen in der DACH-Region aus- und weitergebildet. Sie unterrichten in mehr als 35 Hochschulen das standardisierte, zwölfwöchige Achtsamkeiten-Brückenprogramm. Mit seiner Hilfe werden Studierende, Lehrende, Mitarbeitende und Führende in das Gefüge von individuellen, sozialen und ökosystemischen Übungen eingeführt und auf die höherstufigen Trainingsprogramme (MBSR, Dyadentraining, SPT) vorbereitet.

Wie kann es gelingen, die evidenzbasierten Trainingsangebote zur Bewusstseinsbildung an Schulen und Hochschulen zu skalieren? Wie lassen sich die Achtsamkeitsangebote in den unterschiedlichen Phasen des Bildungsprozesses so konzipieren, dass sie systematisch aufeinander aufbauen? Das sind Fragen, die in Zeiten der Polykrise kreative Antworten benötigen.

Die Basis von Systemveränderung ist die Veränderung des kollektiven Bewusstseins und die Voraussetzung dafür besteht darin, dass das Bildungssystem lernt, sich selbst auf achtsame Weise wahrzunehmen, um zu spüren, was es in Zeiten disruptiver Transformation wirklich braucht. Dieser Prozess – so formuliert Otto Scharmer am Ende des eingangs zitierten Aufsatzes – „könnte durchaus unser größter Hebel sein, um den disruptiven Herausforderungen unserer heutigen Zeit zu begegnen.“

Literatur:
Kluge, Maria: The Toolbox Is You, Osterloh: Eigenverlag 2024 (5. Auflage).
Rasfeld, Margret: Frei Day. Die Welt verändern lernen! Für eine Schule im Aufbruch, München: oekom Verlag 2021 (2. Auflage).
Rasfeld, Margret: Das Schul-Drama: … und wie wir unsere Kinder für die Zukunft stärken, Altenberg: Verlag bene! 2024 (im Druck)
Sandbothe, Mike / Albrecht, Reyk / Ostermaier, Hubert: Achtsamkeiten. Übungen für mich, für uns und für die Welt, München: Arkana 2024 (2. Auflage)
Sandbothe, Mike / Albrecht, Reyk (Hrsg.): Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft, Bielefeld: Verlag transcript 2025 (im Druck)
Sandbothe, Mike / Albrecht, Reyk / Corrinth, Thomas: “Multidimensional mindfulness trainings and methods of embodied thinking at universities of the 21st century”, in: Practicing Embodied Thinking in Research and Learning, hrsg. von Donata Schoeller/Sigridur Thorgeirsdottir/Greg Walkerden, London: Routledge 2024, DOI: 10.4324/9781003397939-13
Scharmer, Otto: „Vertikale Bildung. Die Hochschule des 21. Jahrhunderts neu gestalten“, in: Sandbothe, Mike / Albrecht, Reyk (Hrsg.): Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft, Bielefeld: Verlag transcript 2025 (im Druck)
Schley, Wilfried / Schratz, Michael: Führen mit Präsenz und Empathie. Werkzeuge zur schöpferischen Neugestaltung von Schule und Unterricht, Weinheim und Basel: Beltz 2023 (2. Auflage)
Singer, Tania: Edu:Social Projekt, Social Neuroscience Lab der Max-Planck-Gesellschaft: https://www.edusocial-project.de/

Informationen zum Autor:
Prof. Dr. Mike Sandbothe ist Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Zusammen mit seinem Kollegen Reyk Albrecht hat er das Thüringer Modellprojekt Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft (2015-2019) geleitet und die überregionale Kooperationsplattform Achtsame Hochschulen sowie das Bildungsunternehmen Achtsam.Digital gegründet.

www.achtsamehochschulen.de
www.achtsam.digital
www.achtsamkeiten.com
www.sandbothe.com
www.lea.education/socialpresencingtheater