Wir brauchen zukünftig mehr Weisheit als Wissen: Konferenz „Achtsamkeit in der Bildung“

Auf zur ersten Konferenz „Achtsamkeit in der Bildung“ am 21. und 22. September 2023 in der Universität Leipzig!

Reyk Albrecht, Denisa Sandbothe, Katharina Wyss-Schley und Wilfried Schley;  Foto © Christian Schneider-Broecker

 

Der Aufbruch am frühen Morgen beginnt mit einer Überraschung. Als kurze Fußnote: Schön gestaltete Notizbücher liebe ich sehr und so schoss mir am Vorabend bereits durch den Kopf: „Was nehme ich bloß als Notizbuch mit?“ Mein Archiv war leer. Sicher gibt es dort Schreibblöcke, sprach ich mir tröstend zu. Etwas unausgeschlafen durch anregende Gespräche bis in die Nacht, öffne ich das Geschenk unserer Gästin Kati Dorn. Vorsichtig löse ich das dunkelgrüne Band und wickle das Zeitungspapier auf. Da liegt es vor mir: Ein zauberhaftes Notizbuch, in perfekter Größe und mit handgenähtem Einband. Kati Dorn, Gründerin der Gruppe „Mindful Students Regensburg“, hat viele Talente und offenbar auch Zugang zu ihrer Intuition.

Social Body Scan

Das Gelände ist groß. Rechtzeitig erreichen wir die beeindruckenden Räume auf dem Gelände des Instituts für Sportwissenschaften. Mehr als 20 Angebote finden bereits am Vormittag: Wissenschaftliche Beiträge, ein Symposium, neun Workshops mit dem Fokus Schule und zehn weitere mit dem Blick auf Hochschulen. Meine Entscheidung fällt final auf den 90 Minuten-Workshop „Social Body Scan“. Entwickelt von Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier, konnte ich dieses Tool bereits in unserer LEA-Reihe „Ausbrechen aus der Macht des Gewohnten“ online testen.

Von Denisa Sandbothe sehr präzise angeleitet, tauchen wir jetzt in Gruppen zu viert in ein überraschendes Erleben ein. Ausgangspunkt dieser sozialen Übung ist eine offene Frage zum Erforschen. Es geht ums Wahrnehmen und Feedback geben. Die gemeinsame Nähe stellt sich schnell ein. In 45 Minuten und einer klaren Struktur wechseln wir uns jeweils in den verschiedenen Rollen ab. Jede und jeder hat die Chance, zu sprechen, gehört und gesehen zu werden.

Die drei Ebenen des achtsamen Resonanzgebens machen Überraschendes sichtbar. Mit den Fragen an die jeweilige Rolle „Was habe ich Neues gehört?“, „Was habe ich an Gefühlen bei der Erzählerin wahrgenommen während des Zuhörens?“ und „Was für eine körperliche Geste entsteht in mir zum Gehörten?“ öffnet sich für alle ein magischer Erfahrungsraum.

Mehr dazu und weitere Anleitungen sind zu finden im frisch erschienenen Buch „Achtsamkeiten – Übungen  für mich, für uns und für die Welt“ von Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier, Thomas Corrinth und Maria Kluge.

 

Helle Jensen und Gert Scobel

Zwei Persönlichkeiten mit bedeutsamen Botschaften bereicherten mit ihrer Keynote die Tagung immens. Helle Jensen, dänische Psychologin, Familientherapeutin und Gründerin von Empathie macht Schule sagt „Wenn ich keinen Kontakt zum Körper herstellen kann, dann wird es schwierig“. Sie bestärkt uns, regelmäßig Übungen zur eigenen Körperwahrnehmung zu praktizieren und erinnert uns an die fünf natürlichen Kompetenzen (nach Jes Bertelsen): Herz, Bewusstsein, Körper, Atmung und Kreativität. Aus ihrer Reflexion nehme ich mit, dass die vitale Verbindung dieser Kompetenzen verloren geht, wenn wir unter Druck sind. Zur Vertiefung dazu empfiehlt sich ihr Buch „Hellwach und ganz bei sich“ zu lesen. Für die Selbstfürsorge hier ein paar Tipps aus ihrer Präsentation:

Erinnere Dich an deine eigenen natürlichen Kompetenzen.
Setze mehrere von ihnen gleichzeitig ein.
Denke daran, Pausen zu machen und das Tempo im Laufe des Tages zu variieren.
Gib Anerkennung und empfange Anerkennung durch empathischen Dialog.

Ihre nachdenklichen und dringlichen Abschlussfragen an uns alle: Wie können wir das soziale Feld messen und wie können wir weitermachen? Das Publikum applaudiert Helle Jensen mit Standing Ovation.

Vielleicht hat Gert Scobel schon für das Letztere eine Antwort parat. Dem schlagfertigen, humorvollen und tiefsinnigen Journalisten, Philosophen, Autor und bekannten TV-Moderator lauscht das gesamte Publikum im Hörsaal gebannt. Selbst ein Forschender mit jahrzehntelanger Meditationspraxis, verdichtet er für uns seine Perspektiven und erhält tosenden Applaus.

 

Weisheit wird Wissen ersetzen

Gert Scobel berichtet von der Auswertung des Mindfulness-Reports (2015) in Großbritannien, die sich mit der Gesundheitskrise in England beschäftigt. Durch die erschütternden Ergebnisse hat sich in London eine parteiübergreifende parlamentarische Gruppe für Achtsamkeit gegründet, um auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse politische Empfehlungen für die Regierung zu entwickeln und diese ins Gesundheitssystem zu bringen. Die Idee, das Thema Achtsamkeit und den Umgang mit Transformation zu diskutieren, eine Expertengruppe dafür einzurichten und die Ergebnisse schnell ins Bildungssystem zu bringen, hält er für ganz entscheidend.

Die Ereignisse in der Welt entwickeln sich rasant, exponentiell! Und wir stecken in massiven Transformationsprozessen. „Was müssen wir machen? Wir müssen unser Bildungssystem umstellen! Auf die Wahrnehmung, auf das Verstehen – auf die Wahrnehmung von Komplexität und auf das Verstehen von Komplexität.“ Dass wir uns von unserem Weltbild verabschieden dürfen, macht Sinn. „Unser Ausbildungssystem ist ein Wissenssystem.“ Dafür dürfen wir den Umgang mit Nicht-Wissen in die Klassen, Schulen und Universitäten bringen. Er betont, dass die Kultivierung von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen elementar ist. „Dann lernen wir ein Bewusstsein zu entwickeln, dass nirgendwo verweilt. Es hilft uns, überall zuhause zu sein und uns überall zurechtzufinden.“

Die Zukunft von Bildung wird umgehen (müssen) mit Komplexität, Nichtwissen und Weisheit. Weisheit wird aus seiner Perspektive Wissen ersetzen. Oder etwas milder im Nachsatz von ihm formuliert: „Weisheit ist die Ergänzung zu dem, was Wissen ist.“

„Wir haben die wissenschaftliche Auswertung von Achtsamkeit ausbuchstabiert. Hier werden keine neuen Erkenntnisse mehr kommen. Was wir noch nicht haben und was wir noch nicht wissen, wie Transformation genau funktioniert. (…) Wir dürfen den Kindern, Jugendlichen und Studierenden nahebringen, wie sie mit Transformation umgehen. Mindfulness spielt dabei eine zentrale Rolle in der Bewältigung.“

(Kurze Anmerkung: Gert Scobel vermeidet den aus seiner Sicht inzwischen zerfaserten Begriff Achtsamkeit und benutzt dafür lieber die Begriffe Mindfulness oder Meditation.)

 

Zukunftswerkstatt

Nach seinen eindrücklichen Worten schwärmen wir aus in die Zukunftswerkstätten. Zur Einstimmung gab es bereits vor diesem Fachtag ein starkes Gemeinschafts von Expert:innen entwickelten 40-seitigen „Kompass Bildungstransformation“ zu lesen.

Die Organisatoren haben uns jeweils eine von insgesamt vier Themengruppen zugeordnet, das macht es einfach. Straff durchmoderiert tragen wir zusammen, was uns Beispielsweise in der Lehrer:innenbildung mit dem Ausrichtung auf Achtsamkeit wichtig ist. Hingezogen zur frisch entstandenen Tischgruppe „Fortbildung für achtsame Schulleitung“, rauchen unsere Köpfe. Was muss passieren? Wer sind die Stakeholder im Wandel? Was sind die Ressourcen? Was könnten Spannungen sein? Es ist schön, gemeinsam im Flow der Ideen unterwegs zu sein.

Ein Post-It-Zettel, der im Gallery Walk zu unserem Poster findet, ist ein wahrer Schatz! »Wollen alle Schulleitungen achtsam sein? Idee: Trojanisches Pferd nutzen um Thema mit anderen Themen gelingend zu verknüpfen.« Das Post-It ist vermutlich von Gert Scobel…

Ich bin erleichtert nach der kompakten Zeit am Vormittag, dass neben der Pressemitteilung aus den Ergebnissen der Zukunftswerkstatt ein Protokoll mit konkreten Handlungsempfehlungen entstehen wird. Möge beides diese wichtige Veranstaltung bekannter machen und Menschen ins Tun bringen.

 

Wunsch und Ausblick

Wovon darf es zukünftig mehr geben auf dieser Konferenz? Schlicht und simpel: Bewegung für den Körper. Damit wir dies als wichtiger Faktor für das hohe Gut Gesundheit so oft es geht integrieren und nicht vergessen. Wir brauchen täglich aktivierende und ausdauernde Bewegung für das Herz und unser Gesamtsystem. Mit dem Blick auf Schule: Weniger sitzen, mehr bewegen! Wir Erwachsenen bitte ebenso. Das mir einzig bekannte Konzept für Schulen, welches Achtsamkeit, Bewegung (Training) und Meditation miteinander verbindet, ist die MeTAzeit. Wer dazu mehr erfahren möchte, ist jeden 8. des Monats um 20 Uhr online eingeladen oder lauscht spannenden Expert:innengesprächen unter MeTAzeit-Podcast.

Wie geht es jetzt weiter? Was wird sich aus dieser ersten Konferenz heraus weiter entfalten? Fest steht, die zwei Tage haben das WIR gestärkt. Der Abschied von Freunden fällt nicht so leicht. Die Vorfreude auf das Wiedersehen, auch an diesem Ort, ist da. Wo gibt es sonst im Lande die Chance, zu „Achtsamkeit in der Bildung“ so viele inspirierende Menschen aus der ganzen Republik zu treffen? Die Abenteuerreise der ausgeheckten neuen Ideen kann beginnen. Die ausgebrachte Saat, die durch die neuen Begegnungen und auch der Wiederbegegnungen entstanden ist, wird in der bevorstehenden Zukunft aufgehen.

Nun kommt der krönende Abschluss. Wir bauen die Bühne für Susanne Krämer, Leiterin des ABiK-Projektes an der Universität Leipzig, und Nina Bürklin vom AVE Institut, und sprechen beiden einen tiefen Dank aus. Möge diese Konferenz in die Welt hinaus strahlen, weite Kreise ziehen und die Vorplanung für die kommende Konferenz von vielen unterstützenden Herzen begleitet sein.

„Man kann andere Menschen nicht tiefer verstehen als man sich selbst versteht.
Man begegnet Kindern und auch Erwachsenen mit seinem ganzen Sein, mit Körper, Herz und Verstand.“ (von Peter Hoeg, zitiert von Helle Jensen)

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Text: Katharina Wyss-Schley